Ebrecht-Laermann, A., Löchel, E., Picht, J. & Nissen, B. (2016) Editorial. Jahrbuch der Psychoanalyse 73:7-12
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Der »Fall« und die »Fallgeschichte« sind weit über die Psychoanalyse hinaus und lange vor ihr als spezifische literarische Formen bekannt: Man kennt sie in der Medizin, der Kriminologie, den historischen Wissenschaften, der Rechtsprechung wie in der schönen Literatur - überall dort, wo der Blick auf Individuelles, Singuläres gerichtet ist, das sich einem allgemeinen Gesetz nicht unterordnet, sondern als Erweiterung, Bereicherung, Überschreitung desselben geschätzt und in seinem Wechselspiel mit diesem betrachtet wird. Das Interesse an der Fallgeschichte, dem Casus, nimmt - wie aktuelle Forschungsprojekte und Publikationen zeigen (Düwell/Pethes 2014; Kosenina 2016; Pethes 2016) - derzeit sogar zu, da sie als disziplinenübergreifende »zentrale textuelle Gelenkstelle«, als gleichzeitig »epistemischer und ästhetischer Diskurs« (Pethes 2016) gesehen wird. Goldmann (2009) sieht in der Fallgeschichte eine Manifestation der Verbindung von Literatur und Wissenschaft und zeichnet diese Verbindung zurück bis ins 19. und noch weiter bis zum Beginn des 17. Jahrhunderts bei Cervantes nach, um jenen literarischen Kontext zu umreißen, an dem sich Freuds Stil für seine »Novellen« schulen konnte (Goldmann 2009, 12-18).
Als Schnittstelle von Literatur und Wissenschaft ist der Ort der psychoanalytischen Falldarstellung gewiss treffend bezeichnet. Die Bedeutung und die verschiedenen Funktionen des »Falls« in der Psychoanalyse gehen jedoch darüber noch hinaus. Das Sprechen über Fälle ist hier der Weg, auf dem sich Unbewusstes darstellen und kommunizieren soll. Nicht nur Ausbildung, Supervision und Intervision finden fallbegleitend statt. Auf den einzelnen Fall bezogen ist auch die Art und Weise, in der Psychoanalytiker von ihren analytischen Behandlungen Rechenschaft ablegen und in der sie diese der Fachöffentlichkeit, bisweilen auch einer weiteren Öffentlichkeit, zur Diskussion stellen.